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Als meine Sorge zur Welt kam

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Foto: Pixabay

Als meine Sorge zur Welt kam, hegte und pflegte ich sie mit zärtlicher Liebe. Wie alles Lebende wuchs sie, wurde stark und schön und war voll wunderbarer Freuden.

Wir liebten einander, meine Sorge und ich, und liebten die Welt rings um uns. Denn meine Sorge war freundlich, und ich war freundlich zu ihr. Wenn wir miteinander sprachen, meine Sorge un dich, vergingen die Tage im Flug, und wundervolle Träume schmückten unsere Nächte. Denn miene Sorge hatte eine beredte Zunge, und ich redete viel mit ihr. Wenn wir miteinander sangen, meine Sorge und ich, saßen die Nachbarn an den Fenstern, denn unsere Lieder waren tief wie das Meer, und unsere Melodien riefen ferne Erinnerungen zurück. Wenn wir miteinader auf die Straße gingen, meine Sorge und ich, blickten die Leute uns wohlwollend nach und flüsterten uns die schönsten Sachen…

Aber wie alles Lebende starb meine Sorge, und nun bin ich mit meinen Gedanken allein. Jetzt tönen meine Worte plump in meinen Ohren. Keine Nachbarn kommen, um meine Lieder zu hören. Niemand blickt mir nach, wenn ich über die Straße gehe. Nur im Schlaf höre ich mitleidige Stimmen sagen: „Seht, hier liegt der Mann. dessen Sorge gestorben ist.“

Aus Khalil Gibran „Der Narr“

Khalil Gibran (1883–1931) war ein Wanderer zwischen den Welten: seiner libanesischen Heimat, Europa und Amerika. Mit dem »Propheten« gelang ihm 1923 ein Weltbestseller. Der Sohn maronitischer Christen emigrierte in die USA, kehrte aber bald darauf in den Libanon zurück, um sich mit arabischer Literatur und Geschichte zu befassen. In Paris studierte er Kunst und bereiste von dort aus Europa. Gibran verfasste nicht nur viele bedeutende Werke, sondern war auch ein anerkannter Maler.


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